August Sander
Antlitz der Zeit

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Nel 1929 il fotografo August Sander (Herdorf, 17 novembre 1876 –  Colonia, 20 aprile 1964) pubblica a Monaco di Baviera una raccolta di 60 fotografie destinata a diventare uno dei monumenti della fotografia del Novecento dal titolo Antlitz der Zeit: Sechzig Aufnahmen Deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts, mit einer Einleitung von Alfred DöblinVolto del tempo. Ritratti di sessanta uomini tedeschi del ventesimo secolo, con una introduzione di Alfred Döblin (München, Transmare, K. Wolff, 1929).

In realtà, il testo di Alfred Döblin – lo psichiatra e scrittore di idee socialiste vicino al movimento espressionista che nel corso dello stesso anno avrebbe pubblicato il fortunato romanzo Berlin Alexanderplatz – è molto più di una semplice “introduzione”: si tratta infatti di un importantissimo contributo teorico che affronta il rapporto del mezzo fotografico con i temi della verità e della massificazione dell’individuo in quella che, da lì a pochi anni, sarebbe stata definita da Walter Benjamin l’epoca della riproducibilità tecnica dell’opera d’arte.

Già da alcuni anni Sander andava ragionando attorno al grandioso progetto, purtroppo rimasto incompiuto, di Menschen des 20. Jahrhunderts – Uomini del 20° Secolo. Di questo monumentale progetto Antlitz der Zeit fu la riuscitissima prova.

Elias Canetti e August Sander – che di Canetti era più anziano di quasi trent’anni – non ebbero rapporti diretti, ma i loro lavori presentano notevolissimi punti di convergenza che vanno al di là di semplici analogie dovute allo spirito di un’epoca.

Pensiamo alla coincidenza tra la “finzione” narrata da Canetti ne La commedia della vanità (Komödie der Eitelkeit, 1934), la immaginata distruzione di specchi e immagini fotografiche da parte di un regime totalitario, e i reali roghi di libri nazisti nei quali furono distrutti anche gli esemplari invenduti e le matrici di Antlitz der Zeit nel 1936, libro “degenerato” colpevole, oltre che di contenere un testo dell’ebreo Döblin, di dare una raffigurazione distorta e non eroica del popolo germanico. Ma non possiamo anche non pensare al più profondo legame che unisce le contemporanee indagini antropologiche e sociologiche del mondo tedesco tra Weimar e Nazismo, due ricerche condotte in parallelo con acribia degna di entomologi, che ci hanno lasciato la straordinaria galleria fotografica di maschere di Sander e quella altrettanto straordinaria di quelle maschere sonore che Canetti voleva fossero portate in scena con la Commedia.

Così Sander e Canetti ci restituiscono il paesaggio visuale e sonoro di un’epoca sull’orlo dell’abisso che acquista, se possibile, maggiore definizione con la lente – artisticamente – deformante di George Grosz.

Le 60 fotografie di Antlitz der Zeit sono qui riportate nel loro ordine originale. I thumbnail rimandano alle schede, con riproduzioni a maggiore risoluzione, delle collezioni digitali di MoMA, Tate, Getty.edu, Walther Collection. Sotto ogni fotografia compare il titolo come compare nella raccolta Antlitz der Zeit. In alcuni casi è presente un secondo titolo, utilizzato da Sander in Menschen des 20. Jahrhunderts. Quando conosciuti, sono indicati tra parentesi quadre i nomi dei personaggi ritratti. Quasi tutti i nomi rimandano a collegamenti con schede biografiche di Wikipedia o altri siti.

 

I. SIND DIE EINZELPERSONEN WAHR
ODER WAS IST WAHR?

 

I. GLI INDIVIDUI SONO VERI
O COS’È IL VERO?

Im Mittelalter gab es einen berüchtigten Gelehrtenstreit. Es sind tausend Jahre her. Die Streiter nannten sich Nominalisten und Realisten. Es ist sicher, daß dieser Streit noch heute fortdauert, wenn auch unter andrem Namen. Man kann heute schlecht mit einem Satz sagen, worum es sich damals vor tausend Jahren drehte, denn inzwischen haben die Worte ihren Sinn sehr verändert, aber andeutungsweise will ich die Kampfsituation so beschreiben : Die Nominalisten waren der Meinung, daß nur die Einzeldinge wirklich real und existent sind, die Realisten aber hielten dafür, nur die Allgemeinheiten, die Universalien, sagen wir die Gattung, sagen wir die Idee, sind eigentlich real und existent. Was hat das mit Gesichtern und Bildern zu tun? Ich will das bald zeigen, und wir wollen uns jetzt von zwei Abflachungen unterhalten: von der Abflachung-der menschlichen Gesichter durch den Tod und von der Abflachung durch die Gesellschaft und ihre Klassen. Was ich unter Abflachung verstehe? Die Gleichmachung, das Verwischen persönlicher und privater Unterschiede, das Zurücktreten solcher Unterschiede unter dem prägenden Stempel einer größeren Gewalt, also hier zweier Gewalten, des Todes und der menschlichen Gesellschaft.

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Westwälder Bauer, 1925

Der Stürmer oder Revolutionär

Hirte, 1913

Der Weise
[Hermann Pithahn]

Bäuerin aus dem Westerwald, 1913

Die Philosophin

Bauernpaar, aus dem Westerwald, 1912

Bauernpaar - Zucht und Harmonie, 1912



Bauerngeneration, 1912
Die Familie in der Generation

Jungbauern, 1914Bauernmädchen, 1925Bäuerliches Brautpaar, 1911-1914




Preisträger, 1927Der Herrenbauer, 1924Der Herr Lehrer, 1910Kleinstadtbürger, Monschäuer, 1926

II. DIE ABFLACHUNG DER GESICHTER UND BILDER DURCH DEN TOD

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II. L’APPIATTIMENTO DEI VOLTI E DELLE IMMAGINI PROVOCATO DALLA MORTE

Vor einiger Zeit wurde eine junge Frau aus der Seine gezogen. Man brachte die Unbekannte, unzweifelhaft eine Selbstmörderin, in das Pariser Leichenschauhaus. Und dort fiel sie auf. Wodurch will ich bald sagen. Man hat von der Unbekannten aus der Seine (l’inconnue de la Seine) eine Totenmaske genommen. Viele haben Bilder von dieser Maske oder Abgüsse.

Wodurch fiel denn nun die junge Unbekannte auf, und was veranlaßt viele, sich Bilder oder Abgüsse der Maske anzusehen? Ich will ungefähr den Kopf nach einem Bild beschreiben. Es ist das Gesicht einer jungen Frau oder eines jungen Mädchens vielleicht von 2 0-2 2 Jahren. Sie hat schlichte Haare, die nach rechts und links glatt vorn Scheitel herabfallen. Die Augen sieht man nicht, die Augen sehen nicht, nun, dieses Mädchen ist tot, und ihr Auge hat zuletzt das Ufer der Seine und das Wasser der Seine gesehen, und dann haben sich die Augen geschlossen, und dann ist der kurze kalte Schreck gekommen und der Schwindel und das rapide Hereinbrechen des Erstickens und die Be­täubung. Aber dabei ist es nicht geblieben. Ich möchte glauben, das Mädchen ist nicht freudig in die Seine gegangen. Was nach der anfänglichen Verzweif­lung und dem kurzen Entsetzen des Erstickens kam, das sehen wir jetzt auf dem Bild, auf ihrem Gesicht, und darum hat man sie nicht einfach wie die Hunderte dieser Morgue bei Seite geschafft.

Der Mund der Unbekannten ist leicht eingezogen, er ist beinah gespitzt, und da sind die Wangen nachgefolgt und nun entsteht unter den ruhevoll geschlos­senen Augen, — sie sind geschlossen vor dem kalten Wasser und auch um ganz für ein inneres Bild da zu sein, — nun entsteht unter diesen Augen, um diesen Mund ein wirklich süßes Lächeln, kein Lächeln der Verzückung und der Wonne, sondern ein Lächeln der Annäherung an eine Wonne, ein Erwartungslächeln, das ruft oder flüstert und das irgend etwas sieht, wozu es Du sagt. Die Un­bekannte nähert sich einem Glück. So wie dieses Gesicht aussieht und wie das Bild es wiedergibt, steckt übrigens eine unheimliche Verführung und Versuchung darin. Und wenn schon jedem Todesgedanken auch eine gewisse Beruhigung innewohnt, so strömt dieses Gesicht direkt etwas wie eine Betörung und Lokkung aus.

Was ist mit dieser Deutung? Wir kommen an das Wort von vorhin von der Abflachung des menschlichen Gesichts durch den Tod. Es gibt Sammlungen von Totenmasken. Solche Sammlung liegt vor mir. Und blättert man da herum auch die liebliche Unbekannte ist dabei —, so wird eine große Gleichförmigkeit deutlich. Die Gesichter sind bestimmt verschieden, das Gesicht Wielands ist bestimmt anders als das Friedrichs des Großen oder Jonathan Swifts oder als das schnurrbärtige willensstarke Gesicht Oliver Cromwells oder als das üppige, breite von Lorenzo Medici. Manche ì Gesichter scheinen von Gesundheit zu strotzen, andere sind ausgemergelt von langen Krankheiten. Aber es ist etwas Negatives allen diesen Gesichtern gemeinsam: es ist von allen diesen Menschen etwas weggenommen. Sie haben nicht nur die Augen geschlossen, und dies gibt ihnen das Bild von Nichtlebenden, vielleicht bloß von Schlafenden. Es ist die ganze Unmasse des Momentanen, Beweglichen auf diesen Gesichtern wegradiert. Der Tod hat eine massive Retusche vorgenommen.

Und was bleibt übrig nach der großen Retusche, nach der Radierung? Dieses Menschengesicht en bloc, das Resultat seiner Lebensarbeit und der Arbeit des Lebens an Fleisch und Knochen, am Schnitt der Gesichtszüge, an der Formung von Stirn, Nase und Lippen. Diese überbleibenden Gesichter, festgehalten in den Totenmasken, ihr Ausdruck, das sind Steine, die vorn Meer in jahrzehnte­langer Arbeit gerollt und abgeschlitfen sind, und da wird jetzt keine einzelne momentane Bewegung mehr festgehalten und aufbewahrt. Was man da vor sich hat, ist das En-bloc-Resultat. Nunmehr ist die Arbeit zu Ende. Was Halt gerufen hat, all diese Gesichter abgeflacht hat und sie uniform gemacht hat, das ist der eine Z. Individuell und persönlich und einzeln sind sie im Leben geworden durch zwei große Prozesse: durch die geprägte Form ihrer Rasse und persönlichen Anlage, die sich entwickelt hat — und durch das Draußen, die Natur, die Gesellschaft, die die Entwicklung befördert und gehindert hat. Aber jetzt fördert oder hindert sie nichts mehr, diese Augen sind mit Recht geschlossen, denn nichts mehr strömt von diesen Menschen aus. Und man fühlt vor diesenToten, sie sind nicht nur stumm und in sich geschlossen, nein, sie sind weniger, sie sind Gegenstände in anderen Händen. Sie hatten ge­handelt, und das hat ihr Gesicht geformt. jetzt erleiden sie etwas, sie sind passiv, sie werden abgeformt. Der Tod als Positives. Das war eine Zeitlang Hugo Wolf, Dante, Fox, Friedrich der Große — jetzt sind es alle Besiegte, Be­friedigte, ruhige Objekte.

Der Block des Lebens, sag ich, bleibt übrig. Aber wenn die Liebliche aus der Seine doch auch lächelt? Ja, es geht eine Wirkung von der neuen anonymen Kraft aus. Nicht alle lassen sich leicht von hier wegnehmen. Viele schlafen bestenfalls ein, oder: bestenfalls geht die Sanftheit eines Schlafes beim Eintritt in das anonyme Todesreich auf sie über. Aber einige — nähern sich doch auch einem Glück. Das individuelle Leben hat diese nur geschleudert und ge­hindert. Jetzt werden die Behinderungen von ihnen genommen. Jetzt, wo ihre Augen für dieses individuelle Dasein geschlossen sind, können sie einer anderen, andersartigen, für uns anonymen Daseinsstufe entgegenlächeln; sie können voller süßer Erwartung, voller Sehnsucht die Lippen spitzen.

   




Boxer, 1929Schlossermeister, 1928
Fabbro
Berliner Tapezierermeister, 1929
Tappezziere berlinese
Konditor, 1928
Pasticcere
Mutter und Tochter. Bauern- und Bergmannsfrau, 1912
Madre e figlia. Mogli di contadini e minatori
Landproletarierkinder, 1914 Arbeiterfamilie, 1912 Proletariemutter, 1927







Berliner Kohlenträger, 1929
Portatore di carbone berlinese
Arbeiterrat aus dem Ruhrgebiet, 1929
Consiglio dei lavoratori della regione della Ruhr
Handlanger, 1928
Garzone muratore
Kommunistischer Führer, 1929
Dirigente comunista
[Paul Frölich]
III. DIE ABFLACHUNG GESICHTER UND BILDER
DURCH DIE GESELLSCHAFT
___ III. L’APPIATTIMENTO DEI VOLTI E DELLE IMMAGINI PROVOCATO DALLA SOCIETA’

Hier liegt vor mir eine andere Mappe, Bilder von Lebenden. Diese sind noch nicht in den großen Bottich gefallen, wo das Persönliche und alle Aktivität von ihnen abgewaschen wird. Das Wasser, das diese Steine abschleift, ist noch an ihnen sichtbar. Sie rollen noch in dem Meer, das uns alle schaukelt.

Und während uns aus denTotenmasken überwältigend die eine gleichbleibende Anonymität entgegentritt — wir blicken in eine große eigentümliche Mond­landschaft —, so sehen wir hier — Individuen? Merkwürdig. Man würde glauben, man sieht Individuen. Aber plötzlich  merkt man, man sieht auch hier keine Individuen! Es ist zwar nicht die große, eintönige Mondlandschaft desTodes, deren Licht auf allen Gesichtern liegt, es ist etwas anderes. Und was? Wir sprechen jetzt von der erstaunlichen Abflachung der Gesichter und Bilder durch die menschliche Gesellschaft, durch die Klassen, durch ihre Kulturstufe. Dies ist die zweite gleichmachende oder angleichende Anonymität. Um uns des Wortes aus dem im Finomo. zitierten Streit des Mittelalters zu bedienen: wir haben wirksam gesehen die Allgemeinheit des Todes, der sich also als eine wirkliche reale Macht und Kraft erweist, womit noch nicht gesagt ist, was er eigentlich ist, oder gar, daß er der Sensenmann oder der liebliche Friedens­bringer ist. Und jetzt vor den Bildern der Lebenden begegnen wir einer zweiten Allgemeinheit, die sich als real und wirksam und als eine Kraft erweist, wir begegnen der Kollektivkraft der menschlichen Gesellschaft, der Klasse, der Kulturstufe.

   


Revolutionäre, 1929 [Alois Lindner, Erich Mühsam, Guido Koppl]
Rivoluzionari
Werkstudenten, 1926
Studenti lavoratori
[a sinistra, Erich Sander
Der Kräuterheilkundig, 1929
L'erborista
Katolisher Geistlicher, 1927
Sacerdote cattolico




Evangelischer Geistlicher, 1928
[Ministro protestante]
Bürgerliche Familie, 1923

Famiglia borghese
Junge Mutter, bürgerlich, 1926
Giovane madre, classe media
Bürgerkind, 1926
Bambina della classe media






Jugendbewegung, 1923
Movimento giovanile
Geldbriefträger, 1925
Portalettere

Polizeibeamter. Der Herr Wachtmeister, 1925
Agente di polizia. Connestabile
Zöllner, 1929
Doganieri

IV. EINZELHEITEN AUS DIESER GRUPPE ___ IV. DETTAGLI DI QUESTO GRUPPO

Jeder von uns kennt eine Anzahl Menschen, und er kennt sie, wo er sie trifft, an bestimmten, ganz persönlichen Merkmalen wieder. Man verkehrt nur mit lauter Einzelpersonen, und jede Person hat ihren Namen und hat auch so ihre ganz besonderen, gar nicht wiederkehrenden charakteristischen Zeichen. Man braucht gar nicht nach dem Daumenabdruck zu greifen, der wirklich, wie die Kriminalisten wissen, immer nur ein Faktum an einer einzigen bestimmten Per­son ist, wodurch diese Person identifiziert werden kann. Ich sage, man braucht nicht diesen kriminalistischen Daumenabdruck. Uns genügen im Leben andere Dinge, die zwar nicht so scharf und zahlenmäßig genau sind, aber ausreichende Genauigkeit besitzen. Da hat ein Mann diese Größe, diese Haltung, dieses Gesicht   das ist ein ungeheurer Komplex, der von uns aber mit einem Blick erfaßt wird — da ist diese charakteristische Stimme, dieser Gang, diese Geste, und schon ein kleiner Ausschnitt genügt uns, allemal, um ganz sicher diesen Menschen zu identifizieren. Und identifizieren heißt ihn als einmaliges Geschöpf zu erkennen. Seine Einmaligkeit ist uns ganz selbstverständlich.

Was sagen wir aber zu einem Ameisenhaufen? Da sind also auf dem Weg, von einer Wurzel ausgehend oder von einem Steinlager, vielleicht 500 Ameisen in einer raschen unübersehbaren Bewegung. Hundert Schritt entfernt arbeitet noch ein größerer Haufen. Wir können die Tierchen noch so scharf beobachten, wir kommen über gewisse Artmerkmale und unbedeutende Differenzen zwi­schen den einzelnen Tieren nicht hinaus. Es ist absolut unmöglich, hier zu identifizieren.

Und doch ist es unzweifelhaft, ich möchte es wenigstens an­nehmen, daß sowohl hier, wie etwa auch bei den Bienen, die Tiere sich kennen und sich unterscheiden.

Was ich damit sagen will? Etwas ganz Bekanntes —, aber auf die Menschen wird es wenig angewandt, nämlich: bei einer gewissen Distanz verschwinden Unterschiede, bei einer gewissen Distanz hört das Individuum auf, und nur die Universalien behalten recht. Das Individuum und das Kollektivum (oder das Universale) sind dann — o salomonische Entscheidung   Angelegenheiten der wechselnden Entfernung.

Da wir Menschen sind, haben wir es nur mit In dividuen zu tun unter Menschen! Bei Negern wird uns freilich die Sache auch

schon schwieriger. Wären wir Elefanten, so würden wir aber dic Menschen einteilen, ich meine im Zoo, etwa nach solchen, die bloß vorbeilaufen und sol­chen, die uns Zucker schenken, der Wörter bildet eine Gruppe für sich, eine besondere Spezies Mensch. Auf die Menschen, also auf uns, aber so zu blicken hat nun enorme Vorteile. Man braucht nicht den Standpunkt eines Elefanten zu haben, es genügt schon die Entfernung etwa eines wissenschaftlichen Gesichtspunktes oder eines historischen Gesichtspunktes, eines philosophischen oder ökonomischen. Plötzlich werden wir uns selber Fremde und haben etwas über uns gelernt. Es ist ungeheuer gut, etwas über sich zu lernen. Oh man da­von Gebrauch macht, ist eine zweite Frage, aber schon das Wissen ist gut. Hier bei unsern Bildern handelt es sich um Erweiterung unseres Gesichtsfeldes. Ich zeige das gleich. Wir haben ein herrliches Lehrmaterial vor uns.

   








Betriebsingenieur, 1924
Ingegnere di produzione
Der junge Kaufmann, 1927
Il giovane mercante
Lyzealschülerin, 1928
Studentessa liceale
Gymnasiast, 1926
Alunno di liceo









Corpsstudent, 1925
Membro di una corporazione studentesca
Abgeordneter (Demokrat), 1927
Deputato (Democratico)
Der Kunstgelehrte, 1926
Lo studioso d'arte
[Wilhelm Schäfer]
Der Artzt. Professor Dr. Schl., Berlin, 1929
Il medico. Prof. Dott. Schl., Berlino
[Carl Robert Schlayer]



Der Industrielle, 1929
L'industriale
Großindustrieller. Kommerzienrat A.v.G, Köln¸ 1927Grande industriale consigliere di commercio A.v.G, Colonia
[
Arnold von Guilleaume]

Grosskaufmann mit Gattin, 1923
Mercante all'ingrosso e consorte
Bürgerliches berufstätiges Ehepaar, Köln, 1927
(Coppia professionale della classe media, Colonia)
[Dr. A. Herbig, Jr., e moglie]
V. ES GIBT DREI GRUPPEN PHOTOGRAPHEN ___ V. CI SONO TRE GRUPPI DI FOTOGRAFI

Ich kann nicht finden, daß die photographische Linse anders sieht als das mensch­liche Auge. Sie sieht vielleicht schlechter, da sie ja unbeweglich ist, aber was die Linse uns gibt, ist dasselbe, was wir auch sehen können. Die Platte hinter der Linse hält im Unterschied von unserer Netzhaut Bilder fest, und von die­sen Bildern machen die Photographen verschiedenen Gebrauch, sie bedienen sich ihrer für verschiedene Zwecke. Das ist bloße Angelegenheit der Photo­graphen, aber die Photographen können wie die Maler uns lehren, Bestimmtes zu sehen oder in bestimmter Weise zu sehen.

Da gibt es zuerst Photographen, die künstlerisch sehen, denen das Gesicht nur Material für ein Bild ist, sie sind auf Effekte ästhetischer Art aus. Vor solchen Bildern sagt man „sehr interessant” oder „sehr schön” oder „originell”, das sind ja auch Werte, aber lernen über den Menschen oder für sich kann man hier nichts.

Dann gibt es Photographen, die als Wald- und Wiesenpflanzen auf allen Straßen
gedeihen. Die sind, obwohl sie so viele sind, doch in unsern Augen mehr als jene künstlerischen Herren. Sie wollen ein möglichst „ähnliches” Bild von dem Menschen geben, der sich ihnen stellt. Es soll möglichst „ähnlich” sein, das heißt, das Persönliche, Private, Einmalige an diesem Menschen soll auf der Platte festgehalten werden. Wir kurbeln ein bißchen zurück und erinnern uns unserer Eingangssätze: diese Ähnlichkeitsphotographen, das sind die Nominalisten, die keine Kenntnis von den großen Allgemeinheiten haben. Wir tun den Herren wohl zu viel Ehre an, wenn wir sagen, sie haben in dem großen Streit der Geister Stellung genommen und sich entschlossen auf die Seite der Nomina-listen gestellt. Unbestreitbar und sicher vorhanden ist immerhin ein bestimmter Realismus dieser Gruppe Photographen, nämlich Geld zu verdienen.

Und dann kommt die dritte Gruppe. Ich habe die Seiten nicht gezählt, oder die Sätze, die ich bisher gesprochen habe, aber wir können jetzt eine Flagge hissen, wir sind nämlich jetzt bei unserer Sache, bei unsern Bildern. Wie es bei dieser dritten Gruppe der Photographen ist, weiß man nun schon, es ist also nicht ganz umsonst gesprochen. Diese dritte Gruppe der Photographen, — aber ich rede groß von einer ganzen Gruppe, es gibt bestimmt nur ganz wenige und mir vor Augen ist in Deutschland nur dieser Sander gekommen, diese dritte Gruppe gehört mit Bewußtsein zu den Anhängern des Realismus, sie halten die großen Universalien für wirksam und real, und wenn sie etwas photographieren, siehe da, so sind es nicht ähnliche Bilder, bei denen man bestimmt und leicht den Herrn X oder die Frau Y erkennt, sondern man erkennt und soll erkennen auf diesen Bildern — ich sage im nächsten Absatz was.

 


Der Architekt. Professor Dr. P., Berlin, 1929
L'Architetto. Professor Dr. P., Berlino
[Hans Poelzig]

Der Maler, 1924
Il Pittore
[Jankel Adler]

Bildhauerin, 1929
Scultrice
[Ingeborg von Rath]

Der Komponist P.H., 1925
Il compositore P. H.
[Paul Hindemith]

Der Pianist, 1925
Il pianista
[Max van de Sandt]
Schriftsteller und Literaturkritiker D.H.S., 1926
Scrittore e critico letterario D.H.S
[Dettmar Heinrich Sarnetzki]
Der Tenor L.A., 1928
Il tenore L.A.
[Leonardo Aramesco]
Bohème, 1922-1925
[Willi Bongard, Gottfried Brockmann]

Schankkellner, 1928
Barista
Putzfrau, 1928
Donna delle pulizie
Abgebauter Seemann, 1929
Marinaio sbarcato

Arbeitslos, 1928
Disoccupato
VI. WAS MAN HIER ERKENNEN SOLL ___  

Diese Schilderung ist wie ein Riesenballon, an dem eine ganz kleine Gondel hängen wird. Ich werde aber wirklich nicht mehr viel zu sagen haben. Die Wahrheit ist vorbereitet, und es folgt mir ein Philosoph. Die Bilder, die man sehen wird, sind Worte dieses Philosophen und sprechen jedes für sich und zusammen in ihrer Anordnung viel deutlicher, als was ich sagen kann.

Man hat vor sich eine Art Kulturgeschichte, besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre. Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern und nicht etwaTrachten, das schafft der Blick dieses Photographen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zu­letzt sein enormes photographisches Können. Wie es eine vergleichende Ana­tomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie ge­trieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detail­photographen gewonnen. Es steht uns frei, allerhand aus seinen Bildern heraus­zulesen, die Bilder sind im ganzen ein blendendes Material für die Kultur-, Klassen- und Wirtschaftsgeschichte der letzten dreißig Jahre.

Man sieht die Typen der bäuerlichen Menschen, die wahrscheinlich stabil sind, weil die Form des bäuerlichen Kleinbetriebes seit langem eine gewisse Stabilität hat. Diese Gruppe ist also heute nicht ausgelöscht und verschwunden, kann nur in ihrer Wichtigkeit mehr zurückgedrängt sein. Man sieht bei ihnen die geschlossenen Familien, auch ohne den Pflug und den Acker sieht man den Menschen die grobe, harte, eintönige Beschäftigung an, diese Arbeit macht die Gesichter hart, läßt sie verwittern. Wie sie dann unter neuen Verhältnissen sich ändern, wie der Reichtum, die leichtere Tätigkeit dann die Gesichter löst.

Man gehe über zu den Typen der Kleinstadt, dann zu den nahestehenden der großstädtischen Handwerker und vergleiche damit die modernen Industriellen. Man gehe zu den Bildern des heutigen Großstadtproletariats. Man hat einen raschen Überblick über die Entwicklung der Wirtschaft in den letzten Jahr­zehnten. Man lasse den Schluß nicht aus, um die Art des Fortgangs dieser Ent­wicklung zu verstehen, die Typen des Arbeiterrats, der Anarchisten und Re­volutionäre.

Die Nahrung formt den Menschen, die Luft und das Licht, in dem er sich be­wegt, die Arbeit, die er verrichtet oder nicht verrichtet, dann die spezielle Ideo­logie seiner Klasse. Man lernt darüber mit dem bloßen Blick, vielleicht besser als aus langatmenden Berichten oder anklagenden Hinweisen, aus den Bildern der Gruppe 3, von den Bürgern und ihren Kindern. Die Spannungen unserer Zeit werden deutlich, wenn man diese Werkstudenten sieht und daneben hält diesen Professor und diese sehr ruhige, in Zufriedenheit eingebettete und noch ahnungslose bürgerliche

Der rapide Wechsel der sittlichen Vorstellungen in den letzten Jahrzehnten„ der Fluß dieser Vorstellungen. Da ist noch in Gruppe 4 vorhanden der evan­gelische Geistliche, ein fabelhaftes Bild, seine Zöglinge umgeben ihn, aber sie haben schon Gesichter, die nicht zu dem Ausdruck ihres Lehrers und zu sei­nem Talar passen. Da geht noch auf dem Land der Dorfschulmeister mit dem Vollbart und der Brille, streng und sauber, ein Idealist, ein Grübler. Der Corps­student trägt sein Käppchen, hat Schmisse über dem Gesicht und fühlt sich im Glanz seiner Schärpe. Der ruhige Großkaufmann mit seiner Frau gehört zu dieser Gruppe, das sind Bilder aus Soll und Haben, das sind nicht die modernen Großindustriellen. Aber hinter diesen werden schon andere Typen sichtbar. Die Gesellschaft ist in der Umwälzung, die Großstädte sind riesig angewachsen, einzelne Originale sind noch vorhanden, aber schon bereiten sich neue Typen vor. So sieht also der junge Kaufmann von heute aus, dies ist der Gymnasiast von heute, wer hätte das vor zwanzig Jahren für möglich gehalten, so haben sich die Altersmerkmale vermischt, so ist die jugend auf dem Marsch. Und diese Lyzeumsschülerin in der Tracht der jungen Damen von heute, sie ist vollkom­men ein junges Frauchen, ein Weibchen. Das ist greifbar die Verwischung der Altersgrenze, die Dominanz der Jugend, der Drang nach Verjüngung und nach Erneuerung, der bis ins Biologische durchschlägt.

Vor vielen dieser Bilder müßte man ganze Geschichten erzählen, sie laden da­zu ein, sie sind ein Material für Autoren, das reizender ist und mehr hergibt als viele Zeitungsnotizen.

Dies meine Hinweise. Wer blickt, wird rasch belehrt werden, besser als durch Vorträge und Theorien, durch diese klaren, schlagkräftigen Bilder und wird von den andern und von sich erfahren. —

   

      

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